HAARE IM GESICHTLESEN

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Würden wir uns an rationalen, nur an Fakten interessierten Zeitgenossen ori entieren, würde den Haaren keine große Bedeutung zufallen. Sie seien weder lebenswichtig noch wirklich vonnöten, denn ihre ursprünglichen Aufgaben wie die Wärmeisolierung, die Reibungsminderung und ihre Unterstützung des Berührungssinns können mittlerweile auch gut, vielleicht sogar besser, von an deren Hilfsmitteln übernommen werden. Nehmen wir z. B. ihre Wärmefunktion: Natürlich schützen längere Kopfhaare in kalten Klimazonen vor dem Auskühlen des mit viel Energie versorgten Kopfes, doch würden unsere Haare wirklich der Wärmeisolierung dienen, so müssten folglich all unsere Körperhaare so lang wachsen wir unsere Kopfhaare. Solche und ähnliche rationale Überlegungen haben durchaus ihre Berechtigung, doch klammern sie aus, dass Haare auch andere Funktionen ausüben können. Gefühlsbetonte Menschen werden sich diesen Sichtweisen kaum anschließen. Für sie stellen Haare ein Mittel der Selbstdarstellung dar, über das sich Kreativität ausdrücken lässt und - denken wir nur an das Spielen mit einer Haarlocke während eines Gesprächs - Bot schaften aussenden lassen. So ist es wenig überraschend, dass sich nicht nur Friseure, sondern auch Psychologen für unsere Haare interessieren und ihnen eine gewisse, nahezu übergeordnete Bedeutung zukommen lassen. Beide Berufsgruppen sehen Haare als ein Teil der individuellen Darstellung und des persönlichen Auftritts. Haare können geformt, gefärbt, geföhnt, geschnitten, verlängert, geglättet und in Locken gelegt und so individuell dem eigenen Charakter angepasst werden. 
 
 
 
Doch was stimmt nun: Über- oder unterschätzen wir die Haare, diese sogenannten Hautanhangsgebilde? Sind sie in unserer heutigen Zeit wirklich nicht mehr nötig? Ist die Haarpracht nur noch Dekoration im Gesamtbild eines Menschen, oder kann sie uns etwas über dessen Charakter und Wesen verraten? Es scheint, als würden Haare in ihrer körperlichen Funktion über bewertet, in ihrer inhaltlichen Aussagekraft jedoch unterbewer tet werden. 
Diese Uneinigkeit in Bezug auf das Thema findet sich auch im Gesichtlesen wieder. So umfassend die vielen verschiedenen Gesichtlesetechniken auch sind, nicht jede beschäftigt sich mit der Bedeutung der Haare und sieht sie als hilfreichen Fak tor beim Erkennen, beim Prozess des »Sichtbar-Werdens« eines Menschen an. Noch im vorigen Jahrhundert propagierten ei nige europäische Gesichtleser, dass Haare nur ein Spiegelbild der Mode seien und einzig der Verschönerung dienen würden. Vergessen waren alte Weisheiten und Beobachtungen, die Generationen zuvor angestellt und dabei festgestellt hatten, dass wir über die Haare unterbewusst unsere Persönlichkeit ausdrücken und dass uns unser Körper mithilfe der Haa re sehr bewusst auf Mängel, Defizite und Krankheiten, auch seelischer Natur, aufmerksam machen kann. Heute neh men aufmerksame Gesichtleser in aller Welt wieder Notiz von den Haaren und schätzen ihre Aussagekraft - und dies gilt nicht nur für die Kopfhaare, sondern auch für den Bart, die Augenbrauen, die Wimpern, für einfach jede Art von Ge sichtsbehaarung. 
 
Warum unsere Haare so bedeutsam sind, lässt sich leicht mithilfe des chinesischen Gesichtlesens, des Siang Miens, erklären. Seine Meister ordnen die unterschiedlichen Merkmale des gesichtes bildhaft in Flüsse und Berge ein. Ein Fluss kann seinen Lauf, sei ne Eigenschaften, seine Bewegung stetig, manchmal äußerst schnell verändern. Ein Berg ist dagegen nahezu starr. Aber nur nahezu, denn tatsächlich kann auch er seinen »Auftritt« ändern. Denken wir nur an die Kräfte von Erdbeben, gerölllawinen oder Stürmen, die Schneisen in die Waldhänge eines Berges treiben. 
 
Doch diese Veränderungen geschehen nicht ganz so häufig und müssen oft im detail wahrgenommen werden. Zu den Flüssen zählen chinesische gesichtleser deshalb jene gesichtsmerkmale, die kurzfristig starke Veränderung erfahren oder selbstständig zeigen können. Dazu gehören besonders die Augen und der Mund, weswegen ich meinen Schülern zum genauen Studieren dieser gesichtspartien rate - denn was immer man im gesicht wahrnehmen kann, augen und Mund haben sozusagen das letzte Wort. Sie sind durch unsere gesichtsmuskulatur in ihrer Darstellungskraft äußerst flexibel und reagieren auf eine Stimulanz durch den gesichtsnerv (Nervus facialis) mit mikrosekunden schnellen Reaktionen. ihre Aussagekraft überstimmt alles. Unsere gesichtsform, das Kinn, der Kiefer, die Stirn, die Nase und die Oh ren sind für chinesische gesichtleser hingegen Berge. ihre Verän derungen sind nur schemenhaft, punktuell oder erst im Verlauf von Jahren erkennbar. Nur wenn sich etwas tief greifendes ereig net, sind sie auch zu einer zügigen Veränderung »bereit«. 
 
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Wo sehen gesichtleser aber nun die Haare in dieser bildhaften Zuordnung? Tatsächlich fällt den Haaren eine Son derrolle zu, und so können sie sowohl Flüsse als auch Berge darstellen. Dabei benötigen sie weder so viel Zeit zur Veränderung und Anpassung wie Ber ge, noch sind sie so variabel und wan delbar wie Flüsse. 
So ändert z. B. mancher Mann im Laufe seines Erwachsenenlebens kein ein ziges Mal seinen Haarschnitt. Er hat seine passende Frisur gefunden und möchte diese nicht mehr verändern. Erst das Ergrauen oder gar der Haar ausfall führt eine Veränderung herbei. in diesem Fall sind Haare Berge. Neh men wir auf der anderen Seite eine dynamische, kreative, junge Frau, die sich fast wöchentlich die Haare färbt und unterschiedlich frisiert. Jeden Tag dieselbe Frisur zu tragen, würde sie als langweilig und als nicht ihrer Natur entsprechend empfinden. in diesem Fall sind Haare Flüsse. Dies trifft beson ders auf lange Haare zu, die sich im Mi nutentakt umgestalten und mehrmals am Tag verändern lassen (siehe Kapitel »Frisur und Stimmung«, S. 183). 
macht, denn dadurch können sie uns sowohl über gesundheitliche als auch über seelische Probleme Auskunft ge ben. »Mir stehen die Haare zu Berge« sagen wir, wenn wir uns über etwas aufregen, wenn wir »unter Strom ste hen«, was sich häufig in abstehenden Haaren äußert. Nicht wenige Men schen zeigen nach Schockerlebnissen schnell Veränderungen in der Haar struktur, manche gar in der Haarfar be. Eine Krankheit oder eine mangel- bzw. fehlerhafte Ernährung, die sich nur mittelfristig oder erst über einen langen Zeitraum im gesicht manifes tieren würde, zeigt sich rasch an den Haaren. Unsere Haare sind dadurch hilfreiche informationslieferanten, die der geübte gesichtleser nicht missen möchte. 
Es ist genau diese Schwierigkeit der Zuordnung, die Haare so besonders 
 
 
 


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